Brief an die Gemeinde

Mit einem persönlichen Brief wendet sich Pastor Oliver Boss an die Gemeinde und nimmt darin besonders die Gemeindemitglieder in den Blick, die sich in unserer Großgemeinde St. Margareta nicht mehr so zu Hause fühlen wie früher.

 

Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe (Lk 21,28)

Liebe Schwestern und Brüder in unserer großen Gemeinde St. Margareta,

dieser Brief wird in allen unseren Kirchen zum Vierten Adventssonntag ausliegen und auf der Homepage der Pfarrei veröffentlicht. Gezielt möchte ich mich mit meinen Gedanken an einen ganz bestimmten Adressatenkreis wenden. Ob Sie dazugehören, entscheiden Sie selbst. Ich wende mich heute an alle Gestrandeten.

Diese Formulierung stammt von einem Gemeindemitglied, das nicht für sich allein sprach, sondern für nicht wenige Frauen und Männer, die sich in unserer Gemeinde nicht mehr so zu Hause fühlen wie früher, die sich zurzeit wie Gestrandete erleben. Was heißt in diesem Zusammenhang „wie früher“? „Wie früher“ heißt: wie vor Corona, wie vor der Aufdeckung von drei mutmaßlichen Missbrauchsfällen in den vergangenen vier Jahrzehnten, wie vor der immensen Vertrauenskrise in die Verantwortungsträger des Erzbistums Köln.

Vor diesen drei Ereignissen fühlten sich viele unserer Gemeinde zugehörig und brachten dies durch ein buntgefächertes Engagement auf ganz verschiedenen Feldern des Gemeindelebens zum Ausdruck. Sehr viele feierten die Gottesdienste an den Sonn- und Feiertagen mit und betrachteten St. Margareta mit ihren sieben Kirchorten als ihre geistliche und soziale Heimat.

Das hat sich in den letzten zwei Jahren spürbar und sichtbar verändert. Gemeindemitglieder, die immer kamen, bleiben weg. Ich treffe sie beim Bäcker, an der Tankstelle oder auf dem Spaziergang, aber nicht mehr in der Kirche. Mit einigen komme ich ins Gespräch; sie sagen: „Die Pandemie hat uns gezeigt, dass man den Sonntagmorgen auch auf andere Weise schön verbringen kann. Wir haben gespürt, dass wir gar nichts vermissen.“ Oder „Mit dieser Kirche kann ich mich nicht mehr identifizieren, ich kann diese verlogene Gemeinschaft nicht mehr guten Gewissens unterstützen“. Oder ganz konkret: „Ich vermisse total, dass mein Pastor und meine Seelsorger sich um mich kümmern. Ich bin jetzt schon anderthalb Jahre nicht mehr aktiv, und keiner hat sich mal gerührt und gefragt: Warum kommst du nicht mehr?“. Ich könnte noch weitere Beispiele aufzählen.

Wenn Sie sich mit mindestens einer dieser drei Aussagen identifizieren, dann wende ich mich mit diesem Brief heute genau an SIE. Sie fühlen sich gestrandet, aber ohne eine ausgestreckte Hand vor Augen.

Ich möchte Ihnen heute drei Dinge mitteilen:

  1. Ich nehme Sie wahr
  2. Ich bitte Sie um Entschuldigung
  3. Ich lade Sie ein

Natürlich fällt mir als Pastor auf, dass Menschen auf einmal fernbleiben. Natürlich vermisse ich jede/n, der sonst immer da war und jetzt nicht mehr kommt. Zunächst wollte ich das nicht wahrhaben, schob es auf eine gewisse Phase der Pandemie, verschloss die Augen, konzentrierte mich aufs „business as usual“. Hinzu kam im Frühsommer die hitzige Debatte um die Firmfeier durch Kardinal Woelki und das damit verbundene Gesprächsformat in St. Maria vom Frieden. Meine eigene Rolle in dieser Gemengelage war alles andere als einfach. Ich wollte diesen Sturm einfach nur hinter mich bringen.

Danach ist tatsächlich nur noch wenig passiert. Durch die Pfarrgemeinderatswahl im November und die offizielle Berufung eines Ausschusses „Aufarbeitung und Prävention“ kommt wieder Bewegung in die für unsere Gemeinde wichtige Thematik. Darüber bin ich sehr froh!

Dass Missbrauch mutmaßlich in unserer Gemeinde verübt wurde und wie damit umgegangen wurde und wird, hat viele Gemeindemitglieder in den Protest geführt und/oder von der Gemeinde entfremdet. Das ist natürlich eine Wahrnehmung, die mich sehr schmerzt, und ich frage mich, welchen Anteil ich selbst an dieser Entwicklung habe. Hätte ich an der einen Stelle nicht deutlicher Partei ergreifen müssen? Habe ich mich woanders zu sehr rausgehalten und lieber andere machen lassen? Sie können mir glauben, dass ich mir in den letzten Monaten viele selbstkritische Gedanken darüber gemacht habe.

Daher möchte ich diesen Brief auch nutzen, um ein ehrliches Wort der Entschuldigung zu sagen, wo Sie vielleicht mehr von mir erwartet haben oder auch hätten erwarten können und wo ich zu träge gewesen bin, den direkten Kontakt zu suchen und damit dem Vorbild Jesu nicht entsprochen habe, der gerade dem Verlorenen nachgegangen ist.

In meiner Predigt zum Ersten Adventssonntag bin ich auf das Wort Jesu eingegangen: „Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe“. Dieses Wort begleitet mich seitdem an jedem Tag dieser Adventszeit. Es hat in mir die Erkenntnis reifen lassen, dass es meine Aufgabe als Pastor von St. Margareta nicht sein kann, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern vielmehr, aufgerichtet, gemeinsam mit Ihnen und mit neuem Elan die Zukunft dieser Gemeinde zu gestalten.

Dazu wende ich mich mit einer ganz konkreten Einladung an Sie:

Wenn Sie sich angesprochen fühlen und sich zum Adressatenkreis meines Briefes zählen, dann kommen Sie gern

am Sonntag, dem 30. Januar 2022, um 18.00 Uhr in die Basilika St. Margareta.

In der Feier eines Evensongs möchte ich mit Ihnen einen ganz bewussten Weg beginnen. Wir starten spirituell, um dann – angepasst an die Coronalage, aber auf jeden Fall im direkten persönlichen Kontakt – im Februar ins Gespräch zu kommen. Dafür möchte ich mir bewusst Zeit nehmen.

Vielleicht habe ich Sie mit meinen Gedanken angesprochen und Ihr Interesse geweckt. Dann würde ich mich sehr freuen, wenn Sie meine Einladung annehmen und wir uns gemeinsam auf den Weg machen.

Ich wünsche Ihnen ein bewusstes Zugehen auf das Weihnachtsfest und dann eine tiefe Freude über das Ankommen Gottes in Ihrem Leben. Vielleicht sehen wir uns ja in diesen Tagen schon. Ich würde mich freuen!

Seien Sie herzlich gegrüßt von

Pastor Oliver Boss

Vierter Adventssonntag, 19. Dezember 2021

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